Die Neue Jüdische Schule
Seit über 30 Jahren erforscht Jascha Nemtsov die Geschichte der Neuen Jüdischen Schule in der Musik und das Schaffen ihrer Komponisten.
Die Neue Jüdische Schule war eine Vereinigung von Komponisten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkten und einen national-jüdischen Stil in der Kunstmusik kreierten. Es waren Werke in europäischen Formen und Gattungen, die Elemente synagogaler Musik und ostjüdischer Folklore enthielten. Ihr Entstehen wurde durch die „Renaissance der Folklore“ in der europäischen Musik jener Zeit mit einigen nationalen Strömungen als Vorbild befördert: Die tschechische Schule mit Bedřich Smetana und Antonín Dvořák, die ungarische mit Béla Bartók und Zoltán Kodály, die norwegische mit Edvard Grieg, vor allem aber das russische „Mächtige Häuflein“ mit Nikolai Rimski-Korsakov und Modest Mussorgsky.
Die Geschichte der Neuen Jüdischen Schule begann 1908 mit der Gründung einer Gesellschaft für jüdische Volksmusik in St. Petersburg. Bald wurden ihre Abteilungen in Moskau, Kiew, Odessa und anderen Städten eröffnet. Für junge Komponisten, darunter Joseph Achron, Joel (Yuliy) Engel, Michail Gnesin, Alexander und Grigori Krein, Moshe Milner, Solomon Rosowsky, Lazare Saminsky, Lubov Streicher und einige andere, war diese Gesellschaft eine Vereinigung von Gleichgesinnten, wo eine vertraute, aber auch diskussionsfreudige Atmosphäre herrschte.
Russland war zunächst das wichtigste Zentrum jüdischer Kunstmusik. Die Idee eines eigenständigen jüdischen Stils in der Kunstmusik bewegte aber schon bald jüdische Komponisten auch in anderen Ländern. In den 1920er-30er Jahren wurden jüdische Musikgesellschaften und Musikverlage in Deutschland, Österreich, Polen, Jugoslawien und einigen anderen europäischen Ländern gegründet. Sie veranstalteten zahlreiche Konzerte mit Werken der Neuen Jüdischen Schule und verbreiteten ihre Notenausgaben. Viele berühmte Interpreten wie der Dirigent Arturo Toscanini, die Geiger Jascha Heifetz und Joseph Szigeti, der Cellist Gregor Piatigorsky, die Pianistin Maria Judina oder das Beethoven-Quartett beteiligten sich an diesen Aufführungen.
Die bedeutendste Institution der Neuen Jüdischen Schule in den 1930er Jahren war der Verein zur Förderung jüdischer Musik in Wien, in dem damals einige Komponisten wirkten: Israel Brandmann, Julius Chajes, Aron Marko Rothmüller, Joachim Stutschewsky und Juliusz Wolfsohn.
Durch die Verfolgungen des Nationalsozialismus und Stalinismus wurde die Entwicklung der Neuen Jüdischen Schule Ende der 1930er Jahre gewaltsam abgebrochen, danach geriet sie in Vergessenheit.
Während seiner langjährigen intensiven Forschung hat Jascha Nemtsov umfangreiche Materialien über die Neue Jüdische Schule in über 30 bedeutenden Archiven in Russland, Israel, den USA und mehreren europäischen Ländern, sowie in einigen Privatsammlungen wiederentdeckt. Erstmals konnte die vollständige Geschichte dieser Komponistenvereinigung rekonstruiert werden. Das von Nemtsov gesammelte Musikrepertoire der Neuen Jüdischen Schule mit hunderten Werken in allen Gattungen wurde für das Musikleben wieder zugänglich gemacht. Inzwischen wurde ein großer Teil dieses Repertoires aufgeführt und auf Tonträgern aufgenommen.
Die Ergebnisse seiner Forschung sind unter anderem in der Monographie „From St. Petersburg to Vienna: The New Jewish School in Music (1908–1938) as Part of the Jewish Cultural Renaissance“ zusammengefasst.